Blickrichtung Heimat – Suche nach Orten wo wir nicht sind 2005
Ute Seifert, die neben einem Studium der Betriebswirtschaft, Philosophie und Psychologie Malerei und Kunsttherapie in Ottersberg studiert hat, thematisiert vor allem die Farbe. Hier arbeitet sie großformatig und in leuchtenden reinbunten Kategorien, vor allem das Rot wird von ihr immer wieder untersucht. Aber auch raumbezogene Arbeiten, Performance und Fotografie sowie Zusammenarbeit mit Musikern gehört in ihr Arbeits-Spektrum.
In ihrem strengen Brüsseler Werk spielen die Farbe weiß, der Schatten als Modulator des Lichts und ein intrinsischer Rhythmus die Hauptrolle. Die Künstlerin richtet den eigenen Blick auf die Heimat der menschlichen Präsenz und ihren Lebensmotor, das Herz. Dabei verzichtet sie auf die sofort im Kopf blühenden Assoziationen wie Herz–Schmerz, Liebe-Triebe und was es sonst noch an trivialem Heimat-Kitsch so gibt. Nein, sie untersucht das Innerste, Intimste, Geheimnisvollste: den Ton, der Ausdruck der veritablen Arbeit ist, die ein menschliches Herz leisten muss, um den Organismus zu erhalten. Dieser Ton gibt als Puls im Körperraum den Rhythmus des Lebens an, und ihm folgt der Mensch nach seiner individuellen Disposition. Ihm verdankt er im übertragenen Sinn auch seine unverwechselbare Ausstrahlung, seine Empfindungs- und Wahrnehmungsfähigkeit, sein Erinnerungsvermögen, seine Zukunftsvisionen. Für Ute Seifert ist das Herz deshalb auch ein Sinnbild der vergehenden Zeit und ihrer Metamorphose durch Erfahrungswerte und Sehnsüchte, die sich überlagern und im Jetzt zeitgleich manifestieren.
Schon die griechischen Philosophen waren ja der Meinung, dass Erinnerung und Zukunftswunsch im Jetzt der Gegenwart kulminieren, dennoch ist alles im Fluss – panta rhei. Und Horaz fordert seine Römer wenige Jahrhunderte später auf, das Jetzt, den Tag als Summe aller Tage zu genießen – carpe diem quam minimum credula postero.
Die Arbeit Herztöne besteht aus wenigen kleinformatigen, luziden Teilen, die wie ein Hauch verwehen könnten. Minimalistisch feiert der Schriftzug Jetzt den Augenblick in rhythmisch wiederkehrender Weise als reliefartiger Fries: das Wandobjekt aus weißem Draht wird gefolgt von einer Zwanziger-Reihe kleiner beschrifteter Folienfragmente, die segmentförmig gebogen ebenfalls kaum wahrnehmbar wären, gäbe es nicht die Schattenwirkung der Schrift an der Wand, Manifestation der Flüchtigkeit oder Gleichzeitigkeit von Augenblicken. Eine Mappe mit Zeichnungen auf Transparentpapier rundet die gedankliche Arbeit ab. Vielmal in unterschiedlichstem Schreib-Fluss erscheint „Jetzt“, manchmal deutlich lesbar, manchmal ist der Schriftzug zur nur künstlerisch lesbaren Grafik mutiert. Und reizvoll ist die Überlagerung der jeweiligen nachbarschaftlichen Blätter, die auf spannende Weise die Idee der Simultaneität von Zeit und Leben, Wahrnehmung und Empfindung, Erkennen und Handeln, Innen und Außen verdeutlicht. Um das Eigene und das Fremde der „Kultur-Herztöne“, (Seifert) zu erkennen, braucht es den achtsamen Mitmenschen, um in einem kaum wahrnehmbaren Prozess zu einem wie Ute Seifert es nennt „integralen Bewusstsein“ zu finden.
Signifikant für Ute Seiferts Arbeit ist immer die Verbindung mit Musik, lange Jahre schon arbeitet sie mit der Baseler Komponistin und Pianistin Aida Käser-Beck zusammen. Auch hier haben beide Künstlerinnen die akustische Komponente erarbeitet: Originale Herzton-Aufnahmen aus dem Medizinlabor sind die Grundlage für vier verschiedene Kompositionen zum Thema. Die Komponistin, die hier auch am Klavier sitzt, umspielt und verfremdet den Herz-Beat mit zeitgenössischen Klängen von farbigem Kontrastreichtum. Es entsteht ein zurückgenommen meditativer Eindruck aus transparentem Sound. Das ist echte Körper-Percussion, die auch schon mal stolpert, immerhin sind lebendige Herzen im Spiel.
An der Herzmaschine ist interaktive Mitarbeit gefragt: Unzählige herzbewegte Gedanken und Begriffe sind von Ausstellungsbesuchern den Tasten anvertraut worden, deren kaum wahrnehmbare, ungleichmässige Abdruckspuren den Nachklang von Träumen, Visionen und Erfahrungen zeitigen – hier sind wir touchiert, denn unser Herz ist doch ein gar seltsam Ding. Tief in uns ist viel zu entdecken.
Die Jury schreibt zu Ute Seiferts Arbeit:
„Die kühle, stille Arbeit zeigt emotionale Tiefe. Die Autoreflexion durch Klang erfährt ihre besondere Spannung durch die gleichzeitige Verwendung von strenger wissenschaftlicher Information und zeitgenössischer, nahezu meditativer Klaviermusik“.
Jutta de Vries